Punkt, Punkt, Komma, Strich - Interpunktion im Gedicht

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- Interpunktion im Gedicht -


Vor ein paar Jahren bin ich mal einer Sekte beigetreten. Gut, vielleicht war es auch nur ein Seminar zur Interpunktion. Ich fange mal mit einer ganz banalen Feststellung an: Immer wenn man ein Gedicht schreibt, muss man sich entscheiden, ob man Zeichen setzt oder ob man sie nicht setzt. In der Schule wurde mir dazu vor allem beigebracht, dass das Auslassen von Zeichen einem Bruch mit Konventionen gleichkommt. Das mag im Einzelfall stimmen, insgesamt macht man es sich damit aus meiner Sicht aber zu einfach. Zwei fehlende Zeichen hier und da drücken definitiv nicht gleich den Wunsch nach Anarchie aus! In der Praxis scheint es oft eher so zu sein, dass jeder so seine Vorlieben hat. Manche befolgen tendenziell eher die gängigen Regeln, andere lassen Zeichen gerne konsequent weg. Das mag mal ästhetische Gründe haben, das mag oft auch eher eine unbewusste Entscheidung sein. In diesem Beitrag möchte ich deshalb zeigen, dass man mit Zeichen im Gedicht auch sehr bewusst spielen kann! Manchmal entdeckt man dabei sogar das eigene Gedicht noch einmal ganz neu! Anders gesagt: Ich will euch für meine Sekte begeistern. Was folgt, ist ein Blick in meinen Kopf:


lass dich fallen sagen sie

mir alles was sie wissen

und noch mehr viel mehr

- Auszug aus « rauschen. » (2020, eigenes Werk) -


Generell habe ich mir über die Jahre angewöhnt, meine Rohfassungen immer erst einmal ohne Zeichen zu schreiben. Das hat den Vorteil, dass ich am Ende verschiedene Möglichkeiten für mich ausprobieren kann. Ja, das könnte man auch, wenn man anfangs bereits Zeichen gesetzt hat, aber: Wo man überall einen Punkt setzen kann, sieht man deutlich besser, wenn er noch nicht da ist! An welchen Stellen kann man in dem Beispiel also gedankliche Punkte setzen? "lass dich fallen" könnte ein Satz sein; "lass dich fallen sagen sie" ebenso.

Der Witz bei einer Version komplett ohne Zeichen liegt darin, dass man es den Lesenden überlässt, wo sie die Stopps setzen. Das kann man für sich nutzen, indem man etwa zwei Lesarten einbaut, die sich komplett widersprechen, oder die man miteinander in Verbindung bringen kann. Man kann Lesende auch absichtlich verwirren, indem man sie zwingt einen gedanklichen Punkt neu zu setzen. Im ersten Vers wirkt es beispielsweise noch so, als würden "lass dich fallen" und "sagen sie" zusammengehören; ab dem zweiten Vers ist man dann gezwungen, das "sagen sie" neu zu interpretieren. Aber der erste Gedanke, wie man es lesen wollte, bleibt dann ja trotzdem im Kopf. In dem konkreten Gedicht wollte ich das nutzen, um zwei Dinge gleichzeitig auszudrücken, dabei aber Platz zu sparen, weil das ganze Gedicht ohnehin sehr auf Tempo ausgelegt war. Insgesamt gibt es wahrscheinlich unzählig viele Möglichkeiten, wie man das Fehlen von Punkten nutzen kann, es sorgt letztlich aber in den meisten Fällen dafür, dass das Gedicht vage und offener für weite Interpretationen bleibt. Wer solche Effekte mag, kann also gerne darüber nachdenken, mal das ein oder andere Zeichen auszulassen!

Wenn ich mich dagegen für Zeichen entscheide und diese an verschiedenen Stellen im Gedicht ausprobiere, können mitunter auch ganz unterschiedliche Bedeutungen entstehen. Setze ich die Zeichen, gebe ich die Lesart klar vor:


lass dich fallen. sagen sie

mir alles, was sie wissen!

und noch mehr. viel mehr.

- Festgelegte Bedeutung I -


„lass dich fallen“, sagen sie.

mir? alles, was sie wissen

und noch mehr, viel mehr …

- Festgelegte Bedeutung II -


„lass dich fallen.“ sagen sie

mir alles, was sie wissen?

und noch mehr? viel mehr?

- Festgelegte Bedeutung III -


Ein eher vage gehaltenes Gedicht muss übrigens nicht zwingend über das Fehlen von Zeichen entstehen. Fragezeichen eignen sich zum Beispiel wunderbar, um einen Gedanken ins Ungewisse zu ziehen. Setzt man hinter den Titel ein Fragezeichen, wird das ganze Gedicht bereits von Anfang an angezweifelt. Aber auch einzelne Wörter können herausgegriffen werden und durch ein Fragezeichen betont werden. Generell würde ich zwar sagen: Je weniger Zeichen verwendet werden, desto eher fällt ein gesetztes Zeichen auf. In diesem Fall könnte man sich aber überlegen, ob sich nicht auch eine Kombination aus Punkten und Fragezeichen eignen könnte. Die originale Version mit dem Titel "rauschen." lebt davon, dass man durch den Text huscht. Vielleicht möchte ich das Ich aber ein wenig zweifelnder erscheinen lassen. Vielleicht möchte es sich eben nicht, wie im ersten Vers beschrieben, fallen lassen, sondern verkrampft schon bei dem Gedanken daran. Dann könnte eine der folgenden Versionen durchaus Sinn machen (man beachte auch das drohende Potenzial des Ausrufezeichens!):


lass. dich. fallen? sagen sie

mir alles, was sie wissen!

und noch mehr. viel mehr.

- rauschen? -


lass. dich. fallen? sagen sie

mir alles, was sie wissen?

und. noch. mehr? viel. mehr?

- rauschen? -


Ich mag hier in der ersten Version vor allem auch den Nachhall, der im dritten Vers durch die beiden Punkte entsteht. Hier ist es angenehm; gehäuft können Punkte das Gedicht aber auch richtig – und ich meine richtig – langsam machen. Vielleicht kennen einige ja auch diese Bilder aus verschiedenen sozialen Netzwerken, wo hinter jedem Wort ein Punkt steht, einfach um zu demonstrieren, dass man bei einem Punkt konsequent gedankliche Pausen setzt. Das funktioniert so natürlich auch im Gedicht. Während die zeichenlose Variante bei einem flüssigen Rhythmus tatsächlich dazu verleitet, sehr schnell zu lesen, bremsen viele Punkte aus. Übrigens gibt es da auch Abstufungen. Ein Komma bremst am wenigsten, ein Semikolon ein bisschen mehr und ein Punkt am meisten! Also falls tatsächlich jemand außer mir mal ein Semikolon verwenden möchte, haha (das ist eh erst ab Sektenstufe 5 möglich). Damit kann man innerhalb eines Gedichtes spielen, indem man an einigen Stellen mehr Zeichen setzt, um sie langsamer zu machen und an anderen Stellen weniger Zeichen, um sie im Vergleich schneller wirken zu lassen. Um den Effekt zu verdeutlichen, hier auch nochmal zwei Beispiele:


lass. dich. fallen. sagen sie.

mir. alles. was. sie. wissen.

und. noch. mehr. viel. mehr.

- Entschleunigt -


lass. dich. fallen. sagen sie

mir alles, was sie wissen.

und noch mehr. viel. mehr.

- Gemischtes Tempo -


Wo ich eben übrigens schon bei sozialen Netzwerken war: Zeichen können natürlich auch den Kontext bestimmen, in dem sich ein Gedicht befindet. Diese beiden Beispiele deshalb noch als kleinen Abschluss meiner Gedanken:


lass dich #fallen! sagen sie

mir alles was sie wissen

und noch mehr viel mehr

- Kontext -


„lass dich fallen sagen sie

mir alles was sie wissen

und noch mehr viel mehr“

- Zitat -


Was halte ich nun also fest? Erstmal können Zeichen auf enorm viele und enorm unterschiedliche Weisen verwendet werden. Allein den Punkt habe ich in den paar Beispielen jetzt genutzt, um Doppeldeutigkeit aus dem Gedicht zu nehmen, um Tempo aus dem Gedicht zu nehmen, um das Ich verunsicherter wirken zu lassen und um Nachhall zu erzeugen. Sowas finde ich einfach enorm faszinierend, weil man beim Schreiben bewusst darauf achten kann und plötzlich so viele Ideen kommen, was man ausdrücken könnte. Und am Ende muss man sich dann doch auf eine Variante festlegen, mit der sich andere dann beschäftigen können. Gerade in den Zeichen sehe ich noch so viele Möglichkeiten, die oft nicht so ganz ausgeschöpft werden, deswegen war mir dieses Thema für meinen ersten inhaltlichen Beitrag so wichtig. Es würde mich auf jeden Fall interessieren, wie sehr ihr so auf die Wahl der Zeichen achtet und ob ihr dafür jetzt vielleicht doch nochmal einen Gedanken mehr aufbringen würdet. Ich hatte es anfangs ja schon angedeutet, am Ende ist es halt trotzdem auch ein Bruch mit Konventionen und das muss man ja schon irgendwie auch wollen. ^^'


Im Forum hat @Creon in diesem Gedicht übrigens auch einmal bewusst mit Zeichen gespielt, und das hier war so einer meiner ersten Versuche. Auch Emojis können, wie hier bei Mandelev , in ein Gedicht eingebaut werden! Also falls jetzt noch jemand nach passender Lektüre sucht, haha. ^-^


So, wer tritt der Sekte bei?

Kommentare 8

  • Stimme Mandelev so weit zu, dass ich eher am Ende von Versen "experimentiere" und innerhalb der Verse die Zeichen setze, "wie es sich gehört". Gleichzeitig bedeutet "experimentieren" allerdings auch eigentlich nur, dass ich gucke, was gerade spontan für mich hübscher aussieht.^^


    Übrigens kämpfe ich gegen das Aussterben von Semikolons/Semikola (kann man beides sagen, habe ich gerade herausgefunden)! Muss ich dafür jetzt der Sekte beitreten?

    Danke 2
    • Also eher ästhetische Gründe; das ist schon spannend, wie sich sowas unterscheiden kann, haha. ^-^


      Also in der Sekte müsstest du dich verpflichten, stets von Semikola zu sprechen!

    • Jep, aber auch nur am Versende (was ich eben bei deiner Antwort auf Mandelev erstmal nicht kapiert habe und mich fragte, was du versenden willst und warum du das groß schreibst xD) Vielleicht sollte ich irgendwann mal versuchen, mit sowas zu spielen; ich bin da meist zu konservativ ...


      Dann muss ich mir das nochmal überlegen ...

    • Ich kann ja mal ein paar Versenden an dich versenden! x) Ausprobieren finde ich eigentlich immer gut, man kann es im Nachhinein ja immer noch verwerfen, wenn es einem nicht gefällt! ^-^


      Wir warten geduldig auf dich!

      Danke 1
  • An was du dich alles erinnerst, du ehrst mich sehr.


    An sich achte ich auf die Punktierung, wenn auch meist eher am Versende als mittendrin. Ein Punkt am Ende schafft Abgeschlossenheit und Struktur, während es ohne Satzzeichen, freier, offener und, ich sage mal, nachhallender wirkt. Mit Satzzeichen innerhalb des Verses experimentiere ich wenig; außerdem könnte ich den Ansatz, komplett ohne Satzzeichen zu schreiben und danach zu überlegen, mal ausprobieren. Deine Beispiele sind wirklich anschaulich; ich danke dir. Mit Groß- und Kleinschreibung ist es ja ein ähnliches Phänomen. Oder bist du darüber schon hinweg und schreibst alles nur noch klein?


    Wegen Mitgliedern für deine Sekte, frag mal Thrawn, der scheint da zugänglich zu sein.

    Danke 1
    • Am Versende ist wahrscheinlich auch eher die klassischere Variante. ^^' Abgeschlossenheit ist aber definitiv auch nochmal ein wichtiger Punkt, das stimmt!

      Bei der Groß- und Kleinschreibung habe ich tatsächlich auch kurz überlegt, ob ich das nicht zumindest kurz noch anschneiden soll, aber ich wollte mich dann doch nur auf ein Thema konzentrieren. Generell mache ich es da ähnlich und fange meistens erstmal mit Kleinschreibung an. Aber wirklich viel spiele ich damit innerhalb eines Gedichtes eher nicht herum, eigentlich gucke ich am Ende dann nur welche Variante sich besser anbietet und ziehe die dann konsequent durch. Immer alles klein zu schreiben, würde ich schon deshalb blöd finden, weil ich mir dann ja ein Mittel streichen würde, mit dem ich potenziell spielen könnte, haha. x)

      Danke 1
  • Folge dem Licht, es wird dich führen

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