Habe Mut, hinter alles nach Belieben und ohne Grund ein Fragezeichen zu setzen und es dabei dann auch zu belassen und die Sache nicht mehr weiter zu verfolgen

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Den Leser*innen aus dem deutschsprachigen Raum wird zweifellos auffallen, dass im Titel der heutigen Kolumne ein Zitat von Immanuel Kant aus seinem Text Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? leicht verfremdet wurde, was sicher nicht von ungefähr kommt; denn wohl kaum eine Epoche wird im Geschichtsunterricht so sehr abgefeiert wie die glorreiche Aufklärung, und Kant mit seinem Text steht natürlich stellvertretend für Freiheit des Denkens und kritisches Bewusstsein. Dass er auch für eine rassistische Anthropologie steht und alle Aufklärung die Menschheit, insbesondere die Deutschen, nicht davor bewahrt hat, in „eine neue Art von Barbarei“ zu versinken (Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung), sind dabei so störende Fakten, die die Geschichtslehrenden in der Regel ihrem jungen Publikum, das sie gerade zur Kritik ermuntert haben, nicht auch noch zumuten möchten, und vielleicht erklärt das ja schon, warum das Missverständnis von Kants Ausspruch „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (lat. „Sapere aude“) heutzutage ein so häufiges ist; denn Geschichtsunterricht ist letztlich auch Ideologie, und diese Ideologie ist nun einmal kolonial, da sie nicht anders kann, als die aufgeklärten Bewohner*innen des europäischen Kontinents in den Vordergrund zu rücken und ihnen kritisches Bewusstsein schon per Definition in Abgrenzung gegen die Fremden zu attestieren, die durch diese tolle Epoche der Aufklärung ja nicht gegangen sind.


Insofern sollte das häufige Missverständnis des von Kant geprägten Leitspruches, es zeigt sich in der Pandemie am deutlichsten, nicht verwundern: Es besteht in der Auffassung, kritisches Denken sei schon damit erreicht, einfach mal an etwas gezweifelt zu haben, ob dafür nun ein Anlass gegeben sein mag oder eben nicht, und daher sind diejenigen, die am lautesten „Sapere aude!“ schreien, in der Regel diejenigen, die immer sagen, dass an den Zahlen des RKI ja „irgendwas nicht stimmen könne“, dabei aber sämtliche Antworten auf die Fragen, wie sie denn darauf kämen und was dieses „irgendwas“ sei, schuldig bleiben, zugleich aber den Nachfragenden in der Regel Naivität und Leichtgläubigkeit unterstellen bzw. sie dafür verachten, nicht hinter die Zahlen ein Fragezeichen gesetzt zu haben. Die kritische Prüfung wird auf ihr erstes Moment, den bloßen Zweifel, der ohnehin in der Regel nur pro forma ist, reduziert, und was folgen sollte, nämlich die eigentliche Prüfung des Sachverhalts, wird von den gerade noch so Aufklärungsbegeisterten bis in alle Ewigkeit vertagt, wobei sie, nebenbei bemerkt, natürlich auch nicht glauben können, dass die Leute, die den Zahlen trauen oder ihnen zumindest ausreichend Aussagekraft zur Festlegung des weiteren politischen Handelns einräumen, eine derartige Prüfung tatsächlich vorgenommen haben und das Ergebnis nun einmal so lautet, dass daran alles korrekt ist – wie ja auch dank der Pressefreiheit, die es zu Kants Zeiten noch nicht gab, mehrere voneinander unabhängig operierende Organe die Zahlen ständig nachprüfen und angebliche Fehler oder systematische Ungenauigkeiten daher immer auffallen müssten (es im letzteren Fall ja auch tun), so es sie denn gibt, wenn nicht angenommen werden soll, dass alle unter einer Decke stecken würden.


Womit dann natürlich der Übergang geschaffen wäre zum Verschwörungsmythos, der Scheinkritik zum Mittel der Wahl erhoben und natürlich kein Interesse an einer tatsächlichen Prüfung des Sachverhalts hat, weil es ihm nicht um Fakten, sondern eben lediglich um genau die Unsicherheit geht, die mit dem bloßen Zweifel schon geschürt ist. Nicht die handfeste Ablehnung einer Impfung, sondern die alleinige Frage, ob sie sicher oder effektiv ist, ist sein Ziel, da er weiß, dass er die Menschen dann auch in dieser Frage zurücklassen kann, denn eine Antwort auf sie zu finden bedarf der Auseinandersetzung, die laut Kant aus „Faulheit und Feigheit“ nicht erfolgt, was wohl zumindest auf die verschwörungsideologisch agierenden Subjekte zutrifft, die sich stets die einfache Antwort suchen (Faulheit) oder aber Angst haben, dass die Antwort ihr Weltbild erschüttern könnte (Feigheit), indes bei vielen Durchschnittsbürger*innen schlicht Zeitmangel, Stress und Unübersichtlichkeit der Informationsflut – zu der die Verschwörungsideolog*innen wiederum beitragen – die eigentlichen Gründe für das weitere Ausfallen einer kritischen Prüfung sein dürften, wenngleich das im Geschichtsunterricht aufgeklärte Bürgertum sich darum bemüht, es nach Dummheit und mangelnder Bildung einer von ihm verschiedenen Klasse aussehen zu lassen.


Warum die oben beschriebene tatsächliche Prüfung eigentlich essentiell ist, das fragt bzw. klärt wiederum der amerikanische Pragmatismus, der davon ausgeht, dass es das Ziel des Menschen ist, nach einer Überzeugung zu streben, und somit ein Zweifel an einer Überzeugung (wie etwa, dass die RKI-Zahlen aussagekräftig sind), der sich immer aus einem konkreten Anlass wie etwa der Nicht-Übereinstimmung einer Theorie mit der Realität ergeben muss, stets auch zur Bildung einer neuen Überzeugung zu führen hat, denn der Zweifel an sich, vom Verschwörungsmythos nicht selten in einem falschen Verständnis von Kant oder auch Descartes zum Höchsten erhoben, ist ja gerade ein unbefriedigter Zustand, in dem der forschende Mensch ungern verharren möchte (vgl. Peirce, Die Festlegung einer Überzeugung). Womit sich also insgesamt die beiden zentralen Fehler der Leute, die den Zahlen des RKI ein „Sapere aude!“ entgegenschreien, so charakterisieren lassen, dass sie einerseits keinen Anlass für ihren Zweifel haben und andererseits auch nicht auf Basis ihres Zweifels die Angelegenheit wirklich weiter erforschen, aber zumindest sei ihnen an dieser Stelle fairerweise zugestanden, dass sie den Mut zur Setzung eines Fragezeichens aufbringen.


Dementsprechend sei ihnen als Konsequenz auch der Titel dieser Kolumne als neues Motto zur akkurateren Beschreibung ihres Anliegens empfohlen; nun muss es nur noch jemand Intelligenteres als ich ins Lateinische übertragen.

Kommentare 1

  • Also manchmal werden die Zweifel an den Zahlen mit "Alle, die ich kenne, ..." bzw "Ich kenne keinen, der ..." untermauert. Dabei ist allerdings nicht zwangsläufig Konsistenz notwendig, etwa können Impfquoten mit "Ich kenne keinen, der geimpft ist" in Zweifel gezogen werden und gleichzeitig eine "dumme, obrigkeitshörige, geimpfte Masse" skizziert werden, die am Unheil aller schuld ist.

    Danke 1