Was Legenden von Mystery lernen kann

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Symbolbild: Pantomimen sind Nachahmer. Sie arbeiten mit Mimik und Gestik, verzichten aber auf Worte. Pantomimen entstammen dem dramatischen Theater.


Pokémon-Legenden: Arceus erntet gute Kritiken. Zu Recht, würde man sich auf das Gameplay und die Spielmechaniken beschränken. Warum es Game Freak inc. gut getan hätte, sich von Mystery Dungeon inspirieren zu lassen. Hätte es ein anderes Studio gleich besser gemacht?


Ich habe einen neuen Lieblingsbegriff gefunden: der „treudoofe Held“. So bezeichne ich fortan den ewig stummen Protagonisten in Pokémon-Spielen (und vielleicht auch anderswo). Er ist ein Phänomen: Der treudoofe Held schert sich nicht darum, am selben Tisch mit anderen Personen zu sitzen, die über ihn in der dritten Person sprechen, fast so, als wäre er überhaupt nicht anwesend. Nein, das macht dem treudoofen Helden nichts aus. Lieber starrt er mit großen, treudoofen Augen verträumt ins Leere. Der treudoofe Held ist Luft. Er denkt nicht, sondern tut arglos das, was man ihm aufträgt. Hat er etwas zu sagen, bewegt er zwar den Mund, doch Worte tropfen ihm nicht von den Lippen. Andere müssen für ihn übersetzen, denn er spricht Treudoofisch, eine pantomimische Sprache, die der Spieler nicht versteht. In Momenten wie diesen zeigt er gerne anderen irgendwelche Gegenstände vor, in der Hoffnung, seine Mitmenschen könnten die Geste für ihn interpretieren.


Der treudoofe Held ist schnell überfordert. Gibt man ihm die Wahl zwischen „Ja“ oder „Nein“ zu wählen, ist das Ergebnis immer „Ja“: mit dem Kopf durch die Wand. Option B, „Nein“ zu sagen, steht nicht zur Debatte und endet damit, dass das Raum-Zeit-Kontinuum zusammenbricht und sich die Welt entweder in einer Endlosschleife befindet oder zu Option A zurückgekehrt wird. Der treudoofe Held ist zur Passivität verdammt. Er lässt sich Beleidigungen, Hohn und Spott gefallen. Er erweckt die Illusion, dass er die Erzschurken

Der treudoofe Held lässt andere für sich sprechen und denken.

mit Finesse und Kampfgeist in die Knie zwingt. Doch tatsächlich ist sein Umfeld von seiner lethargischen, abgestumpften Art so gelangweilt, dass sie einfach nur die Lust am Kämpfen verlieren und am Ende Leine ziehen. Und wen wundert es: Der treudoofe Held lässt sie einfach gewähren, gleichwohl er damit die Saat ausstreut, die abermals die Welt an den Rand der Vernichtung treiben könnte. Manchmal, ja manchmal, da reißt der treudoofe Held theatralisch das Maul auf, nickt, runzelt die Stirn oder schüttelt den Kopf und schafft damit das Trugbild, als sei er tatsächlich ein denkendes, fühlendes und atmendes Etwas. Doch dann befindet er sich kurze Zeit später wieder in seiner Blase: Der einzige Mensch (oder zumindest hat es den Anschein, er wäre ein Mensch), der nicht von dieser Welt scheint. Sich tatsächlich zu verständigen, das übersteigt seinen Horizont. Er ist da, aber auch irgendwie nicht. Ein echtes Drama.



Stumm, doch trotzdem emotional

„Who plays pokemon games for the story?”, schrieb kürzlich ein Gesprächspartner im Discord-Chat. Übersetzt: Wer spielt Pokémon wegen der Geschichte? Normalerweise ein gewaltiger Widerspruch. Pokémon ist ein Rollenspiel. Sich in eine fremde Figur hineinversetzen, mit ebenso fremden Figuren interagieren, vor der Realität flüchten, neue, aufregende Erfahrungen zu sammeln: dafür und mehr steht der Begriff „Rollenspiel“. Ich antwortete der Person daraufhin, dass ausgerechnet Pokémon mich dazu inspirierte, mit dem Schreiben zu beginnen. Ich schrieb Fanfictions, wurde Redakteur auf einer großen Videospiele-Fansite und schließlich freiberuflicher Schreiber bei einer Lokalzeitung. Doch nicht die Abenteuer in Kanto, Johto und so weiter inspirierten mich dazu, sondern die „Mystery Dungeon“-Spiele.


Pokémon-Legenden: Arceus ist das neuste Produkt aus der Schmiede von Game Freak inc. Die „Mystery Dungeon“-Reihe entstammt dagegen vom Entwickler Spike Chunsoft. Beide Spiele/Reihen lassen ihren Protagonisten im selben Fahrwasser segeln: Der Held wacht eines Tages in einer fremden Welt auf. Dort muss er Fuß fassen, sein Überleben sichern und die Hintergründe seines

Über einen inneren Monolog drückt die Hauptfigur in Pokémon Mystery Dungeon seine Gefühle aus – zusätzlich zur Mimik.

Aufenthaltes erforschen. Doch Pokémon Mystery Dungeon schafft das Undenkbare: Ein Abenteuer in der Pokémon-Welt zu erzählen, das emotional und aufwühlend ist. Mystery Dungeon kreiert denkwürdige und unvergessliche Figuren, denen man nachempfindet, nachtrauert, mit ihnen sympathisiert. Man macht sich Gedanken um diese, sorgt sich um ihr Wohlergehen. Sogar bei dem recht wortkargen Helden gelingt dies. Das Instrument, das dies ermöglicht, ist ein innerer Monolog. Damit gibt der Held Einblicke in seine Gefühle und lässt Revue passieren, ohne dass er tatsächlich spricht. Witzige, charmante oder schrullige Figuren ergänzen die Geschichte mit denkwürdigen Momenten. Das geht auch dann nicht verloren, wenn die Welt plötzlich am Rande des Abgrundes steht. Gerade dann ist die Narrative besonders stark: Weil man die Figuren lieben gelernt hat.



Game Freak inc. kann es einfach nicht (lassen)

Im schrillen Kontrast steht die Arbeit von Game Freak inc. Seit über 25 Jahren kuschelt das Studio nun mit seinem nimmermüden treudoofen Helden, zuletzt in Pokémon-Legenden: Arceus. Auch hier sorgt ein enigmatisches Ereignis dafür, dass die Hauptfigur der Geschichte eines Tages in der Fremde aufwacht. Doch über die Hintergründe dieses Vorfalls verschwenden erstaunlicherweise alle anderen erstaunlich viel Atem, doch niemals der treudoofe Held selbst. Er nimmt es einfach so hin. Kurz vor dem Abschluss der Geschichte wird er gefragt, ob er glaube, ob mit dem Schließen des Spaltes im Raum-Zeit-Kontinuum seine einzige Chance, in seine Welt zurückzukehren, vernichtet wird. Kopfschütteln, ratloses Schulterzucken: Mehr hat der treudoofe Held zu dem Thema nicht beizutragen. Danach wird auch kein weiteres Wort mehr zur Sache verloren.


Am gemeinsamen Essenstisch, bei dem sich der treudoofe Held nach der fünften Portion Kartoffelmochi hintereinander mittlerweile eigentlich den Ekel angefressen haben müsste, zuckt er keine Wimper, während andere am Tisch sich über seine und die Zukunft der Welt sorgen. Als die Katastrophe ausbricht, die Welt ins Chaos stürzt und der treudoofe Held dafür verantwortlich gemacht wird, bringt er keinen Ton heraus. Hängende Schultern und ein trauriger Blick sollen betroffen machen, lösen aber beim Spieler nur Wut aus. Wut über die Passivität des treudoofen Helden, der die ganze Zeit nur das tat, was ihm aufgetragen wurde, er sich überall lieb Kind gemacht hat und ihm gleichzeitig noch von anderen der Rücken gestärkt wird. Es sind Momente wie diese, wo man sich am liebsten frustriert an die Stirn greifen und einfach nicht mehr hinsehen möchte. Entweder das, oder gleich: Kopf -> Tischkante. Im Vergleich zum ersten „Mystery Dungeon“-Spiel, als die Bewohner der Stadt einen wütenden Mob formten und den Helden aus der Stadt jagten, hatte dieser Held erstaunlich viel gedanklich zum Thema beizutragen, obwohl ihm kaum jemand den Rücken stärkte. Wieder einmal: Der innere Monolog macht es möglich.



Zu faul zum Animieren

Was dem wortkargen Helden scheinbar auch nicht stört, ist, dass die Welt um ihn herum laufend rappenduster wird; seltsamerweise immer dann, wenn irgendetwas in der Spielwelt geschehen müsste. Dann, wenn endlich wieder die Sonne vom Himmel lacht, ist das Wunder wie von Zauberhand vollbracht. Er hinterfragt nicht, was da soeben passiert ist, sondern nimmt es einfach hin.

Türen in der Hisui-Region öffnen sich von Zauberhand. Denn bei der Animation wurde gespart.

Würde er jedes Mal, wenn ein solches Wunder eintritt, einen Schluck aus einer Gute-Laune-Pulle trinken, würde ihm das zwar wahrscheinlich endlich die Zunge lockern, doch gleichzeitig läge er dann nach der halben Geschichte mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus. Denn geschieht es viel zu oft, dass etwas animiert werden müsste, aber anscheinend einfach die Zeit und Geduld fehlt – oder man einfach zu faul ist. Dann sind Schwarzblenden das einfachste Instrument: „Stell’ dir einfach vor, dass, worüber eben gesprochen wurde, tritt nun ein. Voilà!“ Die größte Überraschung für mich war nicht die Klimax der Geschichte (wer der Antagonist ist, wusste ich bereits nach einer müden Stunde: „Der Typ ist sus!“). Nein, zu den größten Überraschungen zählten für mich, dass der Rauchbomben-Abschied des Banditen-Trios tatsächlich animiert wurde und auch bei einem Nebenquest mit Zwirrklop die Attacke Finsteraura zu sehen war.


Doch verglichen mit dem, was Mystery Dungeon schafft, sorgte das bei mir nur für ein müdes Lächeln. Schreibratgeber fordern Autoren dazu auf, weniger zu beschreiben und dafür mehr zu zeigen – "Show, don't tell" nennt sich das umgangssprachlich. Wenn in Mystery Dungeon etwas passiert, dann sehe ich langfristige Folgen, nicht nur für die Umwelt, sondern auch für die Bewohner. In modernen Pokémon-Spielen passiert einfach etwas, doch Konsequenzen hat das nur selten. Stattdessen wird in Möglichkeiten, in Szenarien, gesprochen. Das könnte passieren. Das wird passieren. Herrgott! Dann lasst doch endlich mal was passieren! Jenseits von Textboxen. Jenseits von Figuren, die einfach nur dastehen. Jenseits von einem bloßen Kameraschwenk auf ein drohendes Übel. Ich erinnerte mich zurück, als der Held in Pokémon Mystery Dungeon: Portale in die Unendlichkeit sich mit akrobatischen Manövern in Echtzeit gegen Feinde verteidigt. Oder als meine Partnerin in Pokémon Super Mystery Dungeon über fallende Gesteinsbrocken dem Baum des Lebens hinterherjagt. Oder als in Pokémon Mystery Dungeon: Erkundungsteam Himmel die Helden im Zukunftskerker gefoltert wurden und ihnen die Flucht gelingt. Auch Mystery Dungeon kommt ohne Schwarzblenden manchmal nicht aus. Doch halten sich diese stark in Grenzen. Im Kontrast steht ein modernes Pokémon-Spiel, in dem es anscheinend zu viel verlangt ist, eine Animation zu schaffen, wie der treudoofe Held eine Tür öffnet oder ein Gegenstand auch tatsächlich überreicht wird, statt dies nur über eine Handbewegung anzudeuten. Selbst Fußabdrücke oder ein Spiegelbild im Wasser zu animieren, das schien zu viel Aufwand zu sein. Dabei war man damals bei der dritten Generation noch voll des Eigenlobes dafür, dies ins Spiel implementiert zu haben. Ja, dieses Lob ist nach knapp 20 Jahren so gut gealtert wie Milch. Vielleicht aber ist das Fehlen von einem Spiegelbild im Wasser und Fußabdrücken auch nur ein Beweis dafür, dass der treudoofe Held einfach nicht existiert?


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Es kommt zwar auch nicht ganz ohne Schwarzblenden aus. Doch verglichen

mit einem modernen Pokémon-Spiel machen die Animationen des zehn Jahre alten

Mystery Dungeon ganz schön was her.


Spieler verdienen Besseres

Pokémon-Legenden: Arceus ist kein schlechtes Spiel. Es brilliert in Sachen Gameplay. Würde sich das ganze Spiel einfach nur darauf beschränken, die Geschichte also auf ein Minimum gehalten und hätte man dem Ganzen vielleicht noch mit etwas PvP als Salz in der Suppe gegeben, wäre es wohl etwas Besseres geworden. Doch das ist es eben nicht. Es ist ein Rollenspiel, das einen Fokus auf eine (leider) zu seichte Geschichte legt und dazu noch eine unzeitgemäße Grafik aufweist. Doch zu einem Drei-Gänge-Menü gehören nun mal drei Mahlzeiten. Und wenn man sich von der ranzigen Fischsuppe, die es zur Vorspeise gibt, Salmonellen holt, dann tröstet der gelungene Hauptgang eben nicht darüber hinweg. Am Ende landet man trotzdem mit Magenschmerzen im Bett – oder schlimmer. Ein besserer Koch, beispielsweise Spike Chunsoft hätte im Vorfeld helfen können. Doch dafür ist es leider bereits zu spät.


Über 6,5 Millionen Kopien wurden von Pokémon-Legenden: Arceus in einer knappen Woche verkauft und schlägt damit Pokémon Schwert/Schild in derselben Zeitspanne. Weder bin ich darüber erstaunt noch frustriert. Pokémon-Legenden: Arceus ist im Kern ein gutes Spiel. Doch haben wir Spieler etwas Besseres verdient. Eine bessere Narrative und eine zeitgemäße Grafik. Letzteres jedenfalls dann, wenn es das Ziel sein soll, ein actionorientiertes Spiel in einer semi-offenen Welt zu kreieren. Will Game Freak inc. stattdessen wieder zu seinen Wurzeln zurück, dann besser im klassischen Stil, wie man es aus Zeiten von Gameboy Color oder Advance her kennt. Dann braucht es auch keine Schwarzblenden mehr. Nur den treudoofen Helden, der besitzt auch dann keine Berechtigung. Tatsächlich gelebt hat er ohnehin nie. Er war einfach nur da, oder auch nicht …



Kommentare 1

  • Ich sehe immer noch keine Fußabdrücke im heute angekündigten Spiel der nächsten Generation.