Ein Brief an Evan Hansen

Ich hab mal in der Einleitung zu diesem Blog geschrieben, ich wollte auch meine Gedanken rauslassen zu einem Buch, dass ich in zwei Tagen verschlungen habe, und das mich nicht losließ. Das war damals ein anderes Buch und eigentlich auch anders geplant und ... ich sollte langsam kapiert haben, dass die Dinge in diesem Blog nicht so laufen, wie ich sie versuche zu planen. (Gut, dass ich noch einen Plan habe ...)


Falls der Titel noch nicht klar genug gewesen sein sollte, habe ich noch ein Foto von meinem Buch mitgebracht - es liegt auf meinem E-Piano, wegen Musical und so, ja? - und es geht tatsächlich hauptsächlich um das Buch, da ich vom Musical zwar die Lieder kenne, aber mögliche leicht andere Handlungsverläufe nicht. Ich möchte auch nicht aufpassen müssen, was ich schreibe, sondern einfach schreiben, was mir so un den Sinn kommt, also solltet ihr jetzt wieder gehen, wenn ihr nichts über den Inhalt wissen möchtet. Ansonsten sei erwähnt, dass Selbstmord ein zentrales Thema der Geschichte ist, und da ich absolut nicht geplant habe, was ich schreiben, wollte ich lieber vorwarnen.

Jetzt für alle, die noch hier sind, aber nicht wissen, worum es geht: Dear Evan Hansen ist ein Musical (Lieder) über einen Jungen, der mit sich selbst und dem Leben ziemlich zu kämpfen hat (Waving through a window beschreibt sein Gefühl darüber, alleine zu sein, sich zurückzuziehen und nicht zu wissen, ob sich jemals etwas ändern wird). Dann ist da Connor, von dem ich nicht genau weiß, wie er im Musical dargestellt wird, aber im Buch ist er missverstanden. Er raucht Drogen (sorry Jared) und ist ziemlich aufbrausend, hat aber auch einen guten Kern. Zumindest habe ich seine Rolle so verstanden. Er wollte sich nicht umbringen. Es war eine Entscheidung, über die er nicht wirklich nachgedacht hatte, er wusste nicht weiter. Grundsätzlich waren die beiden Jungs sich ähnlich - Connor sagt in dem Buch sogar einmal, dass sie vielleicht hätten Freunde werden können - sie haben ihre Einsamkeit nur unterschiedlich verarbeitet. Nun hatte Connor einen Brief bei sich, den Evan an sich selbst geschrieben hatte, eine Übung von seinem Therapeuten, und alle denken Connor und Evan waren tatsächlich Freunde. Und Evan fühlt sich endlich zu etwas dazugehörig. Er versucht, die Wahrheit zu sagen, meint dann aber, dass er der Familie etwas Freude schenken könnte. Und so entsteht sein Lügenpalast.

Ich kann ernsthaft nicht sagen, was mich angesprochen hat an der Geschichte. Ich wusste kaum etwas über den Inhalt, als ich mir das Buch gekauft habe, weniger als meine Beschreibung oben aussagt, ich wusste fast nur von dem Brief und dass das Musical am Broadway große Erfolge feierte. Manchmal macht der Hype einen halt doch neugierig. Und nachdem ich einige Wochen um das Buch herumgeschichen war, kam ich zu dem Punkt, an dem ich wusste, dass ich es kaufen und lesen musste. (Ich lese tatsächlich so ziemlich alle Bücher, die ich mir kaufe; nein, wenn ich sie mir selber kaufe, lese ich sie tatsächlich alle früher oder später.) Ich kannte eine Zeile aus einem Lied: "I will sing no requiem tonight". Ich hab das mal in irgendeinem Top10-Video gesehen (was bedeutet, ich hab auch schon mal mehr davon gehört, mir aber nur das gemerkt) und war von Anfang an fasziniert von diesem Vers. Das Stück stammt (im Buch) von Connors Schwester Zoe. Sie weigert sich mithilfe der (gefälschten) Emails von Evan zu trauern und singt darüber, wie impulsiv und dadurch gewalttätig ihr Bruder war. Ich kann bis heute nicht sagen, ob er wirklich mal gedroht hatte, sie umzubringen ... Aber - und das liebe ich an dem Stück - sie ist vollkommen unglücklich. Sie vermisst ihren Bruder, sie ist traurig. Ihre Worte sagen etwas anderes, aber ihre Stimme bricht. Sie sagt auch am Ende des ersten Teils, dass sie ihn vermisst. Sie hat eine schwierige Beziehung zu ihrem Bruder, selbst nach seinem Tod. Es ist faszinierend. Ich kann es nicht ganz greifen, ich hab mich nicht so viel damit befasst, dass ich etwas Genaues dazu sagen könnte, aber das macht es ja so faszinierend. Die Beziehung, das Lied ... "I wouldn't call it a lullaby."

Und dann ist da Evan. Man würde meinen, man würde an seiner Stelle anders handeln, aber würde man das wirklich? Er versucht es ja, aber dann redet er sich ein, dass es allen später besser geht. Für Connors Familie stimmt das nur eine Zeit lang, nur bis seine Lüge in sich zusammenbricht, für alle anderen ... Mehr zufällig macht Evan Connors Familie glauben, die beiden wären auf einer Apfelplantage gewesen, die Connor früher mit seiner Familie besucht hatte. Um Connors Erinnerung zu wahren, veranstaltet Evan mit ein paar Klassenkameraden eine Spendenaktion. Das Connor-Projekt wird durch Evans Rede eine Internetsensation. Ich hab im Buch nicht ganz verstanden, warum sie alle Leute anspricht; im Musical ist sie sehr ansprechend, hat aber (zumindest während des Liedparts, den ich gehört habe) wenig mit Connor zu tun. Irgendwo dazwischen ist der Outtake A part of me. Das Ganze ist so schwere Kost, dass ich noch nicht ganz weiß, was ich davon halten soll. You will be found ist positiv, aufbauend, es geht darum, dass man nicht alleine ist und gefunden wird, wenn man sich alleine fühlt. A part of me geht um die Trauer nach einem Selbstmord und darum, wie die Internetcommunity ihn für sich nutzt. Im Buch erzählt Evan eine Geschichte. Die Geschichte. Es hat viel zu lange gebraucht, bis ich den Baum auf dem Cover mit dem Inhalt verbunden habe - Evan liebt Bäume. Er hat im Sommer in einem Nationalpark gejobbt und dort diese Eichen gesehen. Sein Vater hatte ihm gerade erneut das Gefühl gegeben, nichts wert zu sein. Also kletterte er nach oben, sah die Welt um sich und fühlte sich so ausgeschlossen wie sonst auch. Es war nur ein Moment, in dem er den Griff lockerte ... Das erste Mal, dass wir diese Geschichte hören, erzählt er sie wie einen Witz. Er lag am Boden, sein Arm wurde taub und er dachte, jemand würde kommen "Any second now" - aber niemand kam. Auf Connors Gedenkfeier erzählt er eine Geschichte über eine Apfelplantage und zwei Freunde, sie sehen wollten, wie die Welt von so weit oben aussieht. Ein Ast bricht, Evan fällt, sein Arm wird taub und im nächsten Moment ist Connor bei ihm. Er endet damit, dass er sich wünscht, jemand wäre so für Connor da gewesen. Wie ich die Geschichte zuerst beschrieben habe, gesteht Evan sich erst ein, als alles in Scherben lag. Man sieht immer den Gips auf den Plakaten des Musicals und versteht doch gar nicht, wie wichtig er für die Geschichte ist. Nicht nur dadurch, dass Connor darauf unterschrieben hatte, was die Fehlinterpretation der beiden als Freunde befeuerte. Er ist fast sowas wie ein Mahnmahl.

Ich hab die Lieder mehr oder weniger parallel zum Lesen gehört - ich mag die aus der ersten Hälfte irgendwie lieber, wobei mich kaum eines gleich beim ersten Mal wirklich vom Hocker gehauen hat - dafür aber jetzt. Ich hab seit fast zwei Wochen jeden Tag mindestens eines der Lieder im Kopf. Angefangen hat es mit Requiem und Sincerely Me, welche eigentlich gegensätzlicher nicht sein können. Ich hab viele YT-Kommentare gelesen, die besagten, dass die Leute zuerst Sincerely Me gehört hätten, dachten, es sei ein fröhliches Musical und dann vom Plot oder den anderen Lieder völlig geschockt wurden. Das Problem hatte ich mit Requiem als (vermutlich) meinem ersten Lied daraus nicht, aber es ist nicht zu leugnen, dass es irgendwie Spaß macht, Sincerely Me zuzuhören. Als nächstes kam Waving through a window hinzu. Ich war mir zunächst nicht sicher mit diesem Lied. Ich weiß nicht, warum, vielleicht weil es seltsam war, so ausführlich die Gedanken zu hören (ähnlich war es auch bei Anybody have a map?, weil ich überrascht war irgendwas von Evans Mutter zu hören). Aber diese drei sind aktuell am häufigsten in meinem Kopf, letzteres gerade weil ich mich mit "I try to speak but nobody can hear" identifizieren kann. Ich bin im öffentlichen Raum oft so leise, dass man mich nicht hört. Oder ich finde erst gar keine Gelegenheit etwas zu sagen (etwas, was mir an schriftlicher Kommunikation außerhalb von Chats sehr gefällt, dass es hier nicht so ist). You will be found und Anybody have a map? habe ich ja schon erwähnt, die kamen dann ab und zu dazu. If I could tell her ist etwas, was ich leicht übergehe, sich aber trotzdem ab und zu in meinen Kopf schleicht. Als ich nur den Titel gesehen hatte, dachte ich an ein Lied, in dem Evan darüber singt, dass er die Wahrheit sagen will (was er im Buch kurz vor und nach der Szene, die hier besungen wird tatsächlich vorhat), aber es geht darum, dass er Zoe sagt, was er an ihr magt, von dem sie aber denkt, ihr Bruder hätte es gesagt. Kompliziert. Aber doch irgendwo süß. Auf eine sehr verdrehte Art und Weise. Aus dem ersten Teil fehlt dann (fast) nur noch For Forever, das eben die obige (falsche) Geschichte erzählt. Es ist ein sehr schönes, sehr melodisches Lied, das aber schwer zu hören ist, wenn man die Geschichte kennt; es bekommt einen faden Beigeschmack. Und wieder ist es genau das, was es so faszinierend macht. Mein Lieblingsstück aus dem zweiten Teil ist Only Us, welches - im Buch zumindest - wieder von Zoe selbst geschrieben wurde. Irgendwo hieß es mal, dass danach alles nur noch schlecht werde - und wie. Aus Disappear, To break in a glove und Good for you kann ich nur Ausschnitte, hauptsächlich das, was beim Medley der Spirit Young Performers Company dabei war. Good for you hat mich allerdings schon beim ersten Mal sehr fasziniert, weil man einfach hört, wie wütend Evans Mutter ist, als sie herausfindet, dass ihr Sohn sich quasi eine Ersatzfamilie gesucht hat. Im Buch erfahren wir lustigerweise ausgerechnet über Connor(s Geist), was sie für Evan tut. Sie ist auch nicht lange böse, aber das so in der Musik einzufangen ist schon cool. Words fail hat bei mir so gar keinen Eindruck hinterlassen. Vielleicht war es mir zu viel. Im Buch sagt er schlicht wie es ist. Er hat den Brief nicht geschrieben, er hat sich den Arm alleine im Park gebrochen, Connor und er waren niemals Freunde. Und nach und nach dringt die Erkenntnis in die anderen ein, zerrüttet sie, setzt neue Schmerzen frei: Alles, in dem sie Trost gefunden hatten, war eine Lüge. Words Fail sagt meiner Meinung nach ironischerweise zu viel. Und So big/So small erzählt eine schöne Geschichte, die mir aber in Textform besser gefallen hat als in Liedform. Auch da war mir das Lied irgendwie zu viel. Es ist einfach zu viel Geschichte für ein Lied. Gefühle passen besser.

Alles an der gesamten Geschichte ist unglaublich komplex. Die Charaktere, die Handlung, der Ausgang. Sie leben nicht glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Aber sie restaurieren den Obstgarten und geben Hoffnung. Irgendwie. Also ist es vielleicht doch ein Happy End. Auch wenn erstmal alles zerbricht. Vielleicht wird nicht jeder Tag unglaublich, aber gut kann er doch durchaus werden. Das Finale ist keine Reprise von You will be found, wie es im Medley der Spirit Young Performers Company scheint. Es ist eine Reprise von For Forever. Als wollten sie uns sagen, dass all das passieren könnte. You will be found sagt das aus, was viele Sprüche oder Lieder aussagen: Du bist nicht alleine und alles wird wieder gut. Diese Reprise von For Forever hingegen malt das Bild einer besseren Zeit. Im Buch sitzt Evan am Ende zum ersten Mal auf der Apfelplantage. Sie ist wirklich schön geworden. Er trifft sich mit Zoe; zum ersten Mal seit er die Wahrheit gesagt hat. Connors Familie hat Evans Lüge nie öffentlich gemacht, weil sie so viele Menschen Hoffnung schenkte. Nur einer wusste es: Miguel, der wirklich Connors (bester) Freund war. Evan und Zoe werden sich wohl nie wieder so nah sein wie während der Lüge, aber er kann ihnen helfen, indem er nun Miguels Kontaktdaten weiterleitet. Evan und Connor waren nie Freunde, aber irgendwie haben sie nach Connors Tod viel Zeit miteinander verbracht. Vielleicht sind sie etwas ähnliches geworden. Das Finale sagt uns, dass man alles auch anders betrachten kann. Aber es ist unmöglich nur zuzusehen. For Forever spricht von einem perfekten Tag. Aber er muss nicht perfekt sein. In den Liedtexten ist die Sonne ein wiederkehrendes Thema. In Waving through a window heißt es "Step out of the sun if you keep getting burned", in You will be found: "So let the sun come streaming in" und schließlich im Finale: "Whatch the sun burn bright". Eine Metapher für Freunde, Soziale Kontakte, Menschen. Wir schließen den Kreis. Evan hat es geschafft; nicht vollständig, vielleicht wird er das nie, aber er ist sehr weit gekommen. Vielleicht schon dahin, wo er hinwollte. Das Finale sagt nicht 'Es wird passieren', sondern 'Es passiert'.

Ich habe jetzt seit fast zwei Wochen versucht, meine Gedanken zu diesem Stück zu ordnen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie es jetzt sind. Vielleicht werden sie das auch nie sein. Aber ich denke, sie sind ein bisschen geordneter als vorher. Also, wer mal wirklich über die Sachen nachdenken will, dem kann ich das Buch und die Lieder nur empfehlen, wie die Show insgesamt ist, kann ich halt nicht sagen. Aber es ist irgendwie ... schön, zu lesen, wie Connor als Geist (oder was auch immer genau er im Buch ist) Evan dazu zwingt, weiterzumachen. "Own it." Ab dem Punkt, als alles in die Brüche ging, konnte ich nicht mehr aufhören, zu lesen. Und die Lieder stecken eh in meinem Kopf. Schwer verdaulich, komplex und faszinierend.

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