Besuch von meiner Nichte

Ich darf auf meine kleine Nichte aufpassen. Nervig, mag manch eine*r sagen. Aber nicht für mich. Es macht doch wohl sehr viel Spaß, einfach mal mit der nächsten Generation ein paar allzu simple Kinderspiele zu spielen oder sonst irgendwas zu machen und dabei auch schlicht einfach mal abzuschalten. Es ist das kurze Eintauchen in die Welt der Kinder – eine Welt, die noch so viel simpler ist –, auch wenn am Ende natürlich immer die Rückkehr in die Realität stehen muss.

Meine Schwester bringt meine siebenjährige Nichte am frühen Morgen bei mir vorbei, es ist erst elf. Im Gepäck sind für die Beschäftigung während des Tages ein Laptop, ein Tablet, ein Smartphone und die aktuelle Ausgabe der Wirtschaftswoche. Moment, was?

Gleich nachdem meine Schwester weg ist, hole ich die schönen neuen Malstifte hervor, die ich eigentlich für den nächsten Geburtstag von ihr gekauft hatte.

„Onkel, bitte“, sagt sie. „So etwas braucht doch heute kein Mensch mehr.“ Sie ruft auf ihrem Laptop eine Website mit irgendeiner KI auf und lässt ein Bild herstellen. Ein Haus mit Teich im Stile von Monet, mit nur ein klitzeklein wenig Picasso hineingemischt und durch Leonardo abgerundet.

Ich frage, ob sie vielleicht lieber mit Straßenkreide rausgehen und ein schönes großes Bild für die Nachbarschaft malen möchte. Sie verzieht das Gesicht: „Die Straße zu blockieren ist eine Straftat und hindert andere Leute daran, zur Arbeit zu kommen.“

Ob sie Lust hätte, dieses neue Brettspiel mit mir zu spielen, wo es darum geht, möglichst viele Bäume zu pflanzen und den Planeten zu begrünen? „Ich sehe nicht, wie mir das irgendwelche wichtigen Soft Skills für das spätere Leben vermitteln sollte“, entgegnet sie und öffnet den Steuererklärungssimulator 2023 auf ihrem Tablet. „Du kannst übrigens die Zeitschrift behalten“, sagt sie und deutet verächtlich auf die Wirtschaftswoche. „Ich habe einen Premiumaccount für die Nachrichtenapp und Print hat ohnehin keine Zukunft.“

Ich blättere durch die Zeitschrift. Die Grundschule meiner Nichte ist im Ranking abgestuft worden.

Ich krame hektisch in meinem Bücherregal und finde schließlich mein Exemplar von Momo. „Danke, kein Bedarf am Vorlesen“, antwortet meine Nichte. „Ich höre mir das über Audible an oder nehme noch besser gleich die Zusammenfassung von Blinkist.“

Ich röchele das Wort „Zoo“ hervor. Ich bin nicht einmal ein großer Freund von Zoos, doch es erübrigt sich ohnehin: „Die meisten Tiere in den Zoos werden in den nächsten Jahren aussterben, es ist daher überflüssig, noch etwas über sie zu lernen. Momentan ist der Dachs wichtiger.“

Na, wenigstens ein Tier, das noch … „Ich meine DAX, deutscher Aktienindex, nicht das Tier“, fügt sie zur Klärung hinzu. Oh. Ich fahre das schwerste Geschütz auf, das mir einfällt: Eiscreme. „Tut mir leid, Eis passt nicht in meine Kalorienplanung für den heutigen Tag hinein“, gibt sie zurück.

Ich gebe auf. Ich sehe einfach zu, wie meine Nichte mit ihren Geräten auf dem Sofa sitzt. Kinder. Sie werden immer schneller erwachsen heutzutage. Und sie machen größere Fortschritte als wir, oder zumindest größere als ich. Meine Nichte kann bereits eine Steuererklärung schreiben. Ich kann das nicht.

Ich kann nur nutzloses Zeug, wie zum Beispiel eine Gedichtanalyse schreiben.

In vier Sprachen.

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