Schlussgetaumel

Das ist die Überarbeitung einer Kurzgeschichte von mir, die ich 2014 für einen Wettbewerb hier geschrieben habe. Wie die Zeit vergeht! Viel Spaß beim Lesen. Es geht um Zombies.







Download als: PDF, EPUB

Neugierig pickte ein schwarzer Vogel ein Stück Fleisch aus dem Bauch einer am Boden liegenden Gestalt.

»Hey! Hau ab!«, rief die junge Frau sofort und scheuchte die Krähe von sich. Lange, dünne Gliedmaßen streckten sich aus ihrem von Fäulnis übersäten Oberkörper heraus, während sich die blaue, ledrige Haut angestrengt über die baren Knochen zerrte. Die Kreatur richtete sich auf und humpelte kraftlos und unkontrolliert ein paar Schritte durch den Wald. Bald brach sie zusammen und platschte auf ihre Knie.

»Ach, verdammt«, murmelte sie leise. Dann atmete sie tief ein und wieder aus, als wollte sie sich sammeln. Ungeduldig flatterte der Vogel wieder zu ihr zurück. Sie streckte einen Arm aus und ließ ihn darauf landen.

»Du bist wohl hungrig«, flüsterte sie ihm mit einer gluckernden, tonlosen Stimme entgegen. Sie schaute dem Tier in seine Augen, die gerade eine offene Wunde auf ihrem Arm begutachteten. »Aber … ich muss noch etwas erledigen. Leider war ich zu unvorsichtig.« Sie blickte mit einem Biss auf die Lippen an sich herab. »Aber danke, dass du mich geweckt hast. Und jetzt … Na ja, möchtest du mir nicht bei meiner Aufgabe helfen …?«

Der Vogel ließ ein Krähen ertönen, dann zwickte er nach einem ihrer dürren Finger.

»Na!«, rief sie, schüttelte das Tier ab und setzte hinzu: »Noch nicht, kleines Freundchen!«

Daraufhin stakste sie vorsichtig durch das unebene Dickicht, während die Krähe mit empörten Rufen zurück in die Baumkronen flatterte.

»Komm bald wieder«, gurgelte sie und mied sorgfältig alle Bündel von Sonnenstrahlen, die zwischen den Blättern der Bäume ins Waldinnere eindrangen. Umgeben von stetem Vogelgezwitscher stolperte sie stundenlang voran und suchte mit ihren milchigen Augen aufmerksam die Umgebung ab.

Irgendwann stieß sie auf einen breiten Waldweg. Mittlerweile füllte ein ganzer Schwarm von Krähen das Laubwerk über ihr. Sie spürte die hungrigen Blicke der Vögel in ihrem Nacken. Erst jetzt bemerkte das Zombiemädchen die Gestalt, die starr vor Schreck einige Meter neben ihr stand und sie mit einem Schweißausbruch beobachtete.

»Oh nein, ein Zombie!«, stammelte ihr der Junge von vielleicht zehn Jahren vom Wegesrand aus entgegen, als sie ihn in ihren Blick nahm. Dabei stolperte er einen Schritt zurück und kramte hastig in seiner breiten Tasche.

Die faulende Gestalt winkte ihm zu.

»Halt!«, schrie er und zog einen kleinen Stoffbeutel hervor, »Ah, endlich, das Salz!«

Sofort hob das Zombiemädchen ihre Arme. »Warte! Tu mir nichts!«

Der Junge harrte ein und warf einen verwirrten Blick auf die Fremde. Dann stemmte sie einen Arm zu tief in ihre Hüfte, erhob mahnend mit der anderen Hand die übrige Hälfte ihres Zeigefingers und fragte erbost: »Was machst du hier draußen? Hier ist es gefährlich. Geh nach Hause.«

»Ich bin auf dem Weg nach Hause«, antwortete das Kind schuldbewusst. Sein Misstrauen dem Zombie gegenüber schien innerhalb weniger Sekunden vollkommen verschwunden zu sein. »Und was machst du? Ähm … Zombies sollten eigentlich willenlos umhergeistern und Menschen essen!«

»Das tun nur die unhöflichen«, gab die Fremde zurück. »Ich muss eine Aufgabe erledigen. Ich bin … Abenteurerin und auf der Suche nach etwas sehr Wichtigem.«

»Du meinst einen Schatz?! Bin dabei!«, rief der Junge aufgeregt. Er schwang seinen dicken Rucksack hinter sich und lief weiter an der Seite der humpelnden Gestalt. Sein Blick glitt über ihre ramponierte, zerfetzte Kleidung, vorbei an den großen, kahlen Stellen auf der Kopfhaut, den tiefen Augenhöhlen und den fehlenden Stücken Fleischs in ihrem bläulich-grünen Körper. »Ich habe noch nie einen Zombie so nahe gesehen!«, stellte er erstaunt fest. »Dafür, dass du einer bist, siehst du allerdings echt gut aus!«

Sie rollte genervt mit den Augen. »Zu Lebzeiten habe ich definitiv bessere Komplimente gehört.«

»Wie lange bist du denn schon ein Zombie? Was für einen Schatz suchst du? … Und warum flattern so viele Krähen über unseren Köpfen?«

»Man stellt fremden Personen nicht so viele Fragen«, tadelte ihn das Zombiemädchen. Dann bemerkte sie, wie er mit einem Stock in ihrer Hüfte herumstocherte, sodass ein Stück Leber hinabplatschte. Verärgert bückte sie sich und stopfte es zurück. »Fass mich doch nicht an!«

»Hab' ich gar nicht!« Er musterte das Stück Leber neugierig. »Ist alles an dir herausnehmbar?«, fragte er mit naiver Stimme. Zur Verdeutlichung zog sie sich einen Eckzahn heraus und zeigte ihn vor. Angewidert suchte der Junge Abstand.

Die Krähen über ihren Köpfen zogen in der folgenden Stunde immer engere Kreise, während sich die zwei unterhielten und den Waldpfad entlang schritten. Regelmäßig schaute sich das Mädchen nervös um und blickte aufmerksam in die Ferne.

»Sind hier noch andere Zombies?«

»Ja, hier überall. Der Wald ist verseucht«, antwortete sie.

»Heißt das, sie könnten kommen und uns holen?«, fragte er ein wenig verunsichert und blickte sich unruhig um.

Seine Begleiterin zeigte nach oben. »Zombies haben Angst vor Krähen. Krähen fressen Zombies nämlich gerne auf.«

»Aber dich nicht?«

»Ich denke doch. Vermutlich warten sie, bis ich umfalle. Aber ich falle nicht um.« Sie untermalte diesen Satz mit einem müden Lächeln.

»Keine Sorge, holde Zombiedame! Ich werde Euch beschützen!«

Er zog ein kleines Holzschwert aus seinem Gürtel, rannte damit umher und begann von Schätzen zu singen. Die Untote beobachtete ihn lächelnd, studierte seine hellblauen Augen, die blasse, dünne Haut und sein fröhliches Gesicht. Schließlich verdeutlichte seine Mimik, dass ihm wieder ein Gedanke gekommen war.

»Sag, wie wird man zum Zombie?«, fragte er und äffte stümperhaft ihre Bewegungsart nach.

»Oh, da gibt es verschiedene Wege. Wenn ein Zombie versucht, dich zum Mittag zu verspeisen zum Beispiel. Oder wenn sie mit dir kuscheln.«

»Und wie war das bei dir?«

»Na ja«, flüsterte sie und schaute das Kind vielsagend an, »… einer von ihnen hat ein Auge auf mich geworfen!«

»Es ist schön, dass du mich nicht mit Augen bewirfst. Du bist wirklich nett für einen Zombie«, antwortete er.

»Ach ja? Du bist nicht besonders nett für einen Menschen!«, rief sie verärgert zurück. »Immer diese Vorurteile. Lass dich nicht von so etwas beeinflussen, hörst du!?«

Er nickte schüchtern. Sie liefen eine lange Zeit nebeneinander her, während die Untote die Fragen des Kindes in großzügiger Weise beantwortete.

»Sei nie frech zu deiner Mutter«, belehrte sie ihn irgendwann eingehend, »Du solltest sie respektieren. Und steck alle Kraft in deine Ziele. Ein starker Wille hilft dabei, die schwersten Zeiten zu überwinden. Vielleicht gelingt dir dann sogar etwas, das man bis dahin für unmöglich hielt.«

Der Junge, der keine Ahnung hatte, durch was er den Ungenuss dieser Art von Predigt verdient hatte, wechselte lieber das Thema: »Macht dich eigentlich etwas traurig?«

Ein Anflug von Wehmut huschte über das Gesicht des faulen Mädchens. »Ich finde, du solltest gut zuhören, was ich zu sagen habe!«, sagte sie, um davon abzulenken. »Du wirst dich sicher nicht so bald wieder mit einem Zombie unterhalten können.«

»Ja …«, stimmte er ihr halb zu, doch der Anflug Widerspruch erklang bereits in seiner Stimme.

»Was denn? Höre ich da etwa Schuldbewusstsein …?«, fragte sie und sah ihm direkt in die Augen. Er druckste um ihren Blick herum.

»Kannst du Gedanken lesen? Ich … ich bin schon viel zu lange von Zuhause weg. Tagelang …«, erklärte er kleinlaut. »Ich kriege bestimmt Ärger. Und es wird bald dunkel.«

»Das stimmt«, verlautbarte die Untote streng. »Du solltest schnell nach Hause. Wieso bist du nicht schon früher zurückgekehrt?«

Er blickte auf den Boden. »Ich war wütend. Meine Mama und ich haben uns ganz doll gestritten. Ich denke, ich werde mich gleich entschuldigen. Wir sind schon fast da«, erklärte der Junge. »Ist der Schatz, den du suchst, etwa bei uns im Dorf?«, fragte er aufgeregt.

Mit der Zeit verkleinerten sich die Schritte des Mädchens zusehends. Die Krähen riefen ihnen nun fast ins Ohr, während sich die verbleibende Kraft des Zombies stetig aus den dürren Gliedmaßen kämpfte. Der Wald lichtete sich immer weiter, bis sie ihn hinter sich ließen. Der Himmel färbte sich orange. Schließlich begegneten sie einer weiten, verhügelten Wiese.

»Mein Zuhause ist nicht mehr weit. Da hinten, zwischen den beiden Bergen dort. Man sieht es noch nicht, aber gleich.«

Seine Begleiterin lächelte matt und nickte. »Ist gut. Weißt du, ich muss jetzt hier abbiegen. Ich würde furchtbar gerne mitkommen, aber ein Zombie ist vermutlich kein sehr willkommener Gast bei einem Familienessen.«

Er nickte. »Das ist okay. Ich würde gerne deinen Schatz sehen, aber ich muss wirklich zurück. Ich bekomme bestimmt einen Riesenärger.«

»Gib gut acht auf dich und pass auf deine Familie auf, ja?«

»Klar! Ich werde meiner großen Schwester sagen, dass ich ein tolles Zombiemädchen getroffen habe, von dem sie sich ruhig mal eine Scheibe abschneiden könnte. Also, wenn sie mir nicht böse ist, meine ich.«

»Sie wird dir nicht mehr böse sein, versprochen. Und jetzt, lauf!«

Das tat er. Bald war er an der Spitze des Hügels auf der anderen Seite der Wiese angelangt und winkte dem Mädchen aus der Ferne zu, bevor er dahinter verschwand.

Ihrerseits wandelte die untote Gestalt an den Rand der Wiese und stützte sich keuchend an den Stamm einer alten Eiche. Dabei führte sie einen Schwall schwarzer Krähen hinter sich her, die sie schon bald in eine ruhelose, schwarze Wolke einhüllten.

»Danke für eure Hilfe«, murmelte sie gegen das Flügelflattern an. »Mutter hätte sich nie verziehen, wenn ihm etwas zugestoßen wäre.«

Kaum hatte sie diese Worte geflüstert, brach sie zusammen. Sie schluchzte, als sie die Fassung verlor, die sie die ganze Zeit über mühevoll bewahrt hatte. Eine Krähe setzte sich auf ihre Schulter, woraufhin sie ihr einen kleinen Finger anbot. »Ich bitte euch, lasst nichts von mir übrig.«

Sie lehnte sich an den Baum und starrte mit schmerzerfülltem Gesicht in das schwarze Federmeer. »Nun macht schon. Ihr dürft jetzt.« Sie schloss ausatmend die Augen, als sie spürte, wie die ersten Schnäbel in ihrer Haut versanken.

Einige Minuten später zogen die Krähen gesättigt von dannen.






Kommentare 1

  • Heya, wie angedroht, ein bisschen Feedback von jemandem, der absolut keine Ahnug vom Zombiegenre hat. Wirklich, alles, was ich vorweisen kann, ist ein angefangener Webcomic, ansonsten habe ich keine Ahnung, wie der untote Hase normalerweise läuft.


    Jedenfalls, mir gefällt die Geschichte, immer noch! Kurz und knackig, sauber abgerundet, viel zwischen den Zeilen versteckt, trotzdem sehr verständich. Alleine dieses kreisartige Ende - mit einem hungrigen Raben beginnt die Geschichte, mit einem gesättigten hört sie auf - finde ich ein gekonntes Element. (Allgemein mag ich die Bilder am Ende, ein riesiger, gefrässiger Krähenschwarm über eine innerlich abgeschlossene Protagonistin... Wunderschön...) Auch der Twist gegen Ende ist gut exekutiert - Twist klingt fast ein bisschen zu drastisch, es ist kein "Haha, Schocker! Das hätte ich niemals kommen sehen!"-Moment, mehr ein angenehmer Aha-Moment: Stimmt, jetzt machen ein paar Sachen etwas mehr Sinn, hm hm. Es ist nicht spektakulär, es ist das Licht, dass die ganze Geschichte ausleuchtet, dem Gerüst einen Namen gibt. (Er greift/untermalt auch das Sujet der unzertrennlichen, immer füreinander stehenden Familie auf sehr schöne Weise, dass meines Wissens in recht vielen Zombiegeschichten auftaucht? Wie gesagt, keinen Schimmer.)


    Eine weitere Stärke ist sicher die Protagonistin; ich finde sie sympathisch, sie dünkt mich wie jemand, der nach aussen hin sich lässig und unbeschwert präsentieren möchte, aber doch zu ihren Werte und Prinzipien steht. Durch ihre neue untote Existenz bringt sie, trotz des eher düsteren Ambientes, eine gute Portion Humor mit; ich musste immer wieder wegen ihr schmunzeln. Allgemein gefällt mir, wie du sie als Zombie charakterisierst; wie sie die Zombies dieser Welt en general funktionieren, wissen wir nicht, aber das ist auch kaum nötig. Für mich hört es sich ein bisschen an, als ist es ihre mentale Stärke, ihre Willenskraft, die sie Mensch bleiben lässt, zumindest glaube ich, dass das angedeutet (und durch ihre Charakterisation unterstrichen) wird.

    Ihr Idiolekt fällt mir auf, da er stellenweise... Wie sag ich dem. Videogame-y ausfällt? Die spricht rätselhaft-ominös von einer "Aufgabe", stellt sich als "Abenteurerin" vor, stellenweise wirkt ihre direkte Rede borderline gestelzt. Als du im Kommentar erwähntest, dass die KG als eine Art Parodie verstanden werden kann, machte dieser Umstand etwas mehr Sinn. (Nebenbei: Brüderlein hat, für sien Alter, einen recht beeindruckenden Wortschatz, finde ich? Ich nehme das mal als Detail in seiner Charakterisation wahr. Macht Sinn, dass die beinden verwandt sind.)


    Nur etwas Klitzekleines diesbezüglich, da es mich juckt:

    Zitat

    Erst jetzt bemerkte das Zombiemädchen die Gestalt, die starr vor Schreck einige Meter neben ihr stand und sie mit einem Schweißausbruch beobachtete.

    »Oh nein, ein Zombie!«, stammelte ihr der Junge von vielleicht zehn Jahren vom Wegesrand aus entgegen, als sie ihn in ihren Blick nahm.

    Natürlich ist von Anfang an klar - oder zumindest heavily hinted - dass sie ein Zombie ist, aber trotzdem fühlte sich das erste "Zombiemädchen" etwas sehr wie "Tell" an; gibt das 'Geheimnis' einfach eine Zeile zu früh raus. In seiner direkten Rede wird die Identität einfach einen Ticken eleganter gelüftet.


    Allgemein fiel mir bei der Lektüre auf, dass es doch einiges an "Tell" gibt, die teilweise fast ungeschickt wirken (sage ich halt als jemand, der sehr nach Tell vs Show arbeitet). Mir sind vor allem diese Stellen aufgegfallen:

    Zitat


    Er zog ein kleines Holzschwert aus seinem Gürtel, rannte damit umher und begann von Schätzen zu singen.

    Zitat


    Sie liefen eine lange Zeit nebeneinander her, während die Untote die Fragen des Kindes in großzügiger Weise beantwortete.

    Ich schiebe das auf das Alter und die Zeichenbeschränkung des BB-Wettbewerbe - letzteres glaube ich während der ganzen Konversatin zu spüren, die sehr hastig von einem Punkt zum nächsten hüpft, in Sorge alles relevante in kürzester Zeit abzugrasen, zumindest kommt sie mir so vor. (Oder: Zumindest hatte ich selten eine so effizente Konversation mit einem zehnjährigen, haha.)



    Uff, natürlich wurde das wieder mal viel länger und zeitintensiver, als ich das eigentlich wollte, rip. Naja, hoffentlich kannst du wenigstens davon profotieren! Ich freue mich auf deinen nächsten Blogeintrag, man schreibt sich (。・ω・)ノ゙

    Alte Bedankung 1