Wie uns die Orangen- und Traubenakademie die Jagd nach schillernden Pokémon erschwert

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Symbolbild: In der Blase zu leben, heißt, sich von anderen oder andersartigen zu isolieren. Im Inneren ist es schön und man ist sicher. Der Schutz vor der Wirklichkeit ist jedoch brüchig.


In ihrer jetzigen Form ist die Paldea-Region ein Phänomen. Die Zeit bewegt sich in diesem Landstrich der Pokémon-Welt in einem einzigartigen Tempo voran. Je größer die Distanz zu einem Lebewesen oder einer Sache ist, desto langsamer scheint die Zeit um dieses Ding herum voranzuschreiten. Gleichzeitig ist die Hälfte der Einwohner davon überzeugt, dass die größte Lehranstalt im Land „Traubenakademie“ heißt, während die andere Hälfte ihre Kinder auf die „Orangenakademie“ schickt, die sich wundersamerweise am selben Ort wie die Traubenakademie befinden soll. Es ist daher ein Wunder, dass sich nicht mittlerweile jeder einzelne Quantenphysiker auf diesem Planeten in der Paldea-Region niedergelassen hat. Doch in diesem Fall gäbe es wahrscheinlich bald erheblichen Platzmangel, da Paldea bereits als ein beliebtes Reiseziel für Vollzeitexorzisten gilt.


Auf welche Schule sie nun auch gehen mögen: Die Schülerinnen und Schüler der Lehranstalt haben längst ihren Nutzen aus den seltsamen Naturgesetzen der Paldea-Region gezogen. Täglich treffen sie sich morgens vor Schulbeginn, bilden kleinere Grüppchen und manipulieren fröhlich die Zeit ihres fünf Meter entfernten Nachbarn. Sie schwatzen, tauschen Pokémon-Karten oder frönen einfach nur dem Müßiggang, bevor es dann doch irgendwann zum Unterricht geht. Die Welt scheint – gewissermaßen – doch irgendwie in Ordnung zu sein. Gäbe es da nicht eine Gruppe von Schülern, die an diesen illustren Zusammenkünften nicht teilnehmen kann.



Kriechend zum Unterricht

Wer auf einen Rollstuhl angewiesen ist, hat in Mesolona City schlechte Karten.

Ich muss gestehen: Viel bekam ich von der Paldea-Region nicht zu Gesicht. Denn Dinge wie die bizarren Naturgesetze oder die frustrierenden Monologe von aufdringlichen Fremden zehrten ganz schön an meinen Nerven. Es wird eine Weile dauern, bis ich mich von diesem denkwürdigen Trip erholt habe. Kaum etwas wird mir so sehr in Erinnerung bleiben, wie mein erster und einziger Besuch in Mesalona City; genauer gesagt: Als ich vor der Treppe zur Was-auch-immer-Akadamie stand. Mein erster Gedanke war: „Behindertengerecht ist das nicht.“ Und das ist Fakt. Wer auf einen Rollstuhl angewiesen ist und in Paldea zur Schule gehen will (oder muss), der ist hoffnungslos verloren. Schafft man es tatsächlich die unendlichen Stufen hinauf, der wird im Inneren der Lehranstalt mit weiteren Stufen bestraft. Moderne Schule für alle und jeden? Rampe? Fahrstuhl? Ist nicht!


Tatsächlich steht die Was-auch-immer-Akadamie für die zynische Scheinheiligkeit des Spielentwicklers. In der Welt von Pokémon ist alles in Ordnung. Auch wenn mit jeder Generation das Schicksal des Planeten auf der Kippe steht, ist ja stets ein mundfauler, treudoofer Teenager zur Stelle, der keine Fragen stellt. Ja, in der Welt von Pokémon ist alles in bester Ordnung. Daher verwundert es nicht, dass in dieser „perfekten“ Welt ein Rollstuhlfahrer keinen Platz hat …


Nun höre ich bereits die klimpernden Mistgabeln und die flackernden Fackeln des wütenden Mobs vor meiner Tür. „Aber es gibt nicht in jeder Schule Rollstuhlfahrer!“, schreit die aufgebrachte Meute. Ja, das stimmt. Aber das kann auch gut sein. Auch in der Was-auch-immer-Akadamie könnte tatsächlich der Fall sein, dass es keine geh- und stehbehinderten Menschen gibt. Doch allein die Möglichkeit, dass es welche geben könnte, käme der Realität deutlich näher als die blanke Vorstellung, dass eines Tages tatsächlich jemand die hundert Treppen zur Schule hinauf kriechen könnte. Doch dieses Rollstuhl-Dilemma ist lediglich ein Symptom eines weitaus tiefer liegenden Geschwürs.



Zugänglichkeit ist etwas Gutes

Im März 2022 schrieb ich für das Magazin einen Artikel, der sich über Zugänglichkeit in Videospielen befasst, vor allem im Hinblick auf Pokémon. Damals kreidete ich vor allem die fehlende Vertonung an. Positiv verändert hat sich seit diesem Tag nichts. Wobei man natürlich sagen muss, dass seit damals nicht viel Zeit vergangen ist. Aber dafür wäre in den letzten ein, zwei Dekaden genug Zeit gewesen für eines der lukrativsten Geschäfte auf dem Erdenrund.


Ein schillerndes Pokémon kann in einem weitläufigen Gebiet leicht übersehen werden. „Pokémon Legenden Arceus“ hilft mit optischen und akustischen Signalen.

Die unwegsame Was-auch-immer-Akadamie steht für mich sinnbildlich für vieles, was in diesem Videospiel nicht stimmt. Und damit meine ich nicht die technischen Mängel. Nein, die Was-auch-immer-Akadamie steht stellvertretend für Game Freak. So wie es sich diese pompöse Schule offensichtlich nicht leisten kann, einen Teil ihrer monströsen Treppe für eine mickrige Rampe abzuzwacken, kann es sich Game Freak anscheinend weiterhin nicht leisten, ihre Spiele zugänglicher zu machen. Auch hier möchte ich einmal wieder Spielekritiker James Stephanie Sterling zitieren: „Wenn Spielehersteller ihre Produkte zugänglicher machen, werden mehr Spieler diese spielen. Mit mehr Spielern kann eine Gemeinschaft mehr wachsen und profitiert aus langer Sicht davon.“ Ein Häkchen, das ich als Spieler in den Spieloptionen setzen darf, ist etwas Gutes. Es bedeutet, dass ich das Spiel meinen Wünschen, möglicherweise sogar meinen Bedürfnissen, anpassen kann. Und wer es nicht braucht, der braucht es halt nicht. Darum ist es optional. Wer lieber lesen statt hören will: fein. Wer lieber auf einem hohen Schwierigkeit statt auf einem niedrigen spielen will: gerne. Und wer lieber mit einem Feuerwerk aus Lichtern und Farben zugebombt und keinen Filter haben will: Das ist dann auch jedem sein eigenes Bier. Betont werden muss außerdem: Auch dann, wenn etwas keine Option ist, dafür aber das Spiel kompromisslos verbessert wird, ist das etwas Gutes. Wer in aller Welt würde sich beispielsweise darüber beschweren, dass ein Produkt besser funktioniert? Absurd!


Game Freak hat mit „Pokémon Karmesin/Purpur“ dieses Jahr jedoch genau das Gegenteil gemacht. Denn das andere in 2022 veröffentlichte Produkt, „Pokémon Legenden Arceus“, brachte eine Erleichterung mit, welche in dem Nachfolgeprodukt fehlt: das kleine akustische Signal und die Glitzereffekte beim Erscheinen eines Schillernden Pokémons in der offenen Welt. Warum das entfernt wurde? Das weiß nicht mal der Pokémon-Gott selbst.



Entwickler in der Blase

In den sozialen Medien und auf anderen Plattformen schüttelt man darüber nur den Kopf. Selbst der „Hardcore-Pokémon-Gamer“ scheint darüber frustriert zu sein, die in dieser quietschbunten Spielwelt zwei Gelbstufen dunkleren Pikachu zu erkennen, während sich ihm gleichzeitig die minderwertige Bildfrequenz in die Netzhaut einbrennt. Letzteres scheint aber okay zu sein, also reden wir darüber nicht. Nein, hier geht es um echten Gamerfrust; Frust über gelb oder orange, weiß oder grau, Frust über schillernd oder doch nicht. Denn das bereits erwähnte akustische Signal und die tanzenden Sterne über einem dieser besonderen Pokémon in gibt es in der Paldea-Oberwelt nicht, so wie es auch die Rampe für die Was-auch-immer-Akadamie nicht gibt.


Nicht immer sticht der Unterschied zwischen schillernd oder nicht-schillernd deutlich hervor.

Game Freak ist ein Entwickler-Studio, das in einer Blase lebt. Es versteht die Existenz außerhalb seiner Komfortzone nicht, hat möglicherweise sogar bereits den Millenniumsprung nicht ohne dauerhaften Schaden verkraftet. Anders kann man es sich nicht erklären, wie man eine Stütze für konzentrationsschwache oder farbenblinde Menschen einfach aus der Existenz tilgen kann. Na ja, fast. Man könnte dem Spielentwickler nun auch Boshaftigkeit vorwerfen. Davon sind wir aber noch entfernt. Stattdessen lasse ich es damit beruhen, dass Game Freak weltfremd und inkompetent ist. In Game Freaks quietschbunter Welt existiert einfach nicht die Notwendigkeit für Rampen, die sinnbildlich für die Vertonung des Spiels oder für ein längst entwickeltes, ungenutztes, von der Spielgemeinschaft positiv aufgenommenes Feature stehen. Denn die Spieler, Game Freaks Kunden, sind wie die NPC’s in Paldea: gefangen in einer isolierten Zeitanomalie und, was noch viel wichtiger ist, perfekt.


Wieder höre ich den wütenden Pöbel, der vor meiner Tür ihre Mistgabeln wetzt: „Aber ein Videospiel soll doch zur Realitätsflucht dienen! Es ist absolut in Ordnung, wenn sich Game Freak dazu entschließt, eine heile Welt zu generieren! Wir brauchen nicht dauernd daran erinnert zu werden, dass es Menschen mit bestimmten Nöten oder Bedürfnissen gibt!“ Wir bewegen uns auf einem sehr gefährlichen Pflaster, wenn wir so denken. Sobald wir Bedürfnisse als etwas Außergewöhnliches oder sogar Negatives darstellen, grenzen wir aus. Es ist dasselbe, wie in Gruppen oder Kategorien zu denken, statt die Vielfalt einfach als das hinzunehmen, was sie ist: normal.


Es würde dem Team von Game Freak gut tun, endlich aus seiner Blase auszubrechen. Vielleicht wäre ein ausgedehnter Urlaub in der Paldea-Region genau das Richtige. Denn in diesem temporalen Albtraum hätten sie mehr als genug Zeit, an ihrem nächsten Spiel zu arbeiten – hoffentlich dann mit der ein oder anderen Rampe.

Kommentare 3

  • Haha... XD

    Aber es gibt doch Trasla in der Region, das Teleportiert sicher liebend gerne "Besucher" in die Schule. 😂


    Und die Shiny Suche ohne Akkustischen Signal, fühl ich so sehr. War sonst noch jemand so verrückt ein Knarbon shiny zu hunten? Wenn man auf mini kleine Pokemon Modelle starrt um blaue statt rote Augenbrauen zu erkennen? War absolut kein Spaß 😭


    Aber ein sehr schöner Artikel, nur das Gamefreak nach 9 Generationen weiterhin ständig einen Schritt vorwärts und zwei zurück geht, lässt meine Hoffnungen auf Besserung so ziemlich vergehen, aber wer weiß, vllt. Überraschen Sie uns in zwei Jahren mal. 😅

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    • Ich warte auf den richtigen Shitstorm seit Jahren. Stattdessen bekommen wir boomende Verkaufszahlen. Solange das so bleibt und es immer noch eine stattliche Anzahl an Leuten gibt, die diese Praktiken verteidigen, signalisieren wir weiterhin grünes Licht.


      Ich für meinen Teil bin wohl an dem Punkt angekommen, an dem ich die Spiele zukünftig entweder nur noch gebraucht für ein Appel und ein Ei kaufe oder einfach nur emuliere. Warum sollte man schließlich auch für ein defektes Produkt, das eigentlich nur Schrottwert besitzt, auch noch Geld bezahlen? Bei anderen Firmen würde so etwas direkt in der Tonne landen. Wir bezahlen dafür stattdessen den vollen Preis.

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  • Danke für den gut recherchierten Beitrag!

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